In der taz vom Donnerstag, 15. März 2012 ist ein Aufruf der »Assoziation für kritische Gesellschaftsforschung (AkG)« erschienen, in dem über 120 Wissenschaftler_innen, Künstler_innen und Aktivist_innen eine grundlegende Neuorientierung der Politik im Kontext der Eurokrise fordern: Zudem ist der Aufruf in den Blättern für deutsche und internationale Politik dokumentiert worden.
Im Aufruf wird die bisherige Politik als unsozial und anti-demokratisch kritisiert. Sie nimmt nicht zur Kenntnis, dass die Euro-Krise eine »Strukturkrise des Kapitalismus« ist und unter anderem durch die seit Jahren sinkenden Reallöhne in Deutschland mit verursacht wurde. Spardiktate werden von »männerdominierten ›Experten‹-Gruppen« beschlossen, Organe wie die EU-Kommission, der Europäische Gerichtshof oder die Europäische Zentralbank, die »jenseits demokratischer Kontrolle« agieren, erhalten »mehr und mehr Macht«.
Als vorläufigen Höhepunkt werten die Unterzeichnenden den so genannten Fiskalpakt. Er steht für eine »autoritäre Entwicklung in Europa«, verordnet eine »sozialfeindliche Sparpolitik« und schränkt die Möglichkeiten demokratischer Selbstbestimmung weiter ein. Der Fiskalpakt wurde auf dem EU Gipfeltreffen am 02. März 2012 beschlossen und soll bis Anfang 2013 von den nationalen Parlamenten ratifiziert werden. Vorangetrieben wird der Pakt von einem Bündnis aus Kapitalverbänden, Finanzindustrie, der EU-Kommission und europäischen Exportüberschussländern unter der Führung Deutschlands. Er sieht unter anderem Strafen für Länder vor, die von einem strikten Sparkurs abweichen. Positiv beziehen sich die Unterzeichner_innen auf die sozialen Proteste etwa der spanischen Empörten, der griechischen Linken oder der Occupy-Bewegung. Mit ihrer Stellungnahme rufen sie auch zur Teilnahme an kommenden Protestaktionen auf. Der für den 31. März geplante »Europäische Aktionstag gegen Kapitalismus«, der globale Aktionstag am 12. Mai und die Protesttage gegen das Krisenregime der Europäischen Union in Frankfurt am Main vom 17.-19. Mai bieten die Möglichkeit, für eine andere Politik einzutreten. Die Mitglieder des Bundestages fordert der Appell auf, den Fiskalpakt nicht zu ratifizieren. Statt des Fiskalpakts müssen Staatsschulden gestrichen, Kapitalverkehrskontrollen eingeführt und Banken in öffentliche Dienstleister umgewandelt werden. Politik und Wirtschaft sollen auf allen Ebenen radikal demokratisiert werden.
Der Aufruf - Volltext
Demokratie statt Fiskalpakt!
Krisenlösung und Europa gehen nur ganz anders
Frühjahr 2012. Merkel und Sarkozy eilen von Gipfel zu Gipfel, um den Euro zu retten. Der Boulevard hetzt gegen die Menschen in Griechenland. Der Kampf um die Krisenlösung spitzt sich dramatisch zu: Bis Anfang 2013 will ein autoritär-neoliberales Bündnis aus Kapitalverbänden, Finanzindustrie, EU-Kommission, deutscher Regierung und weiteren Exportländern den jüngst in Brüssel beschlossenen ‚Fiskalpakt’ im Schnellverfahren durch die Parlamente bringen. Der Fiskalpakt verordnet eine sozialfeindliche Sparpolitik und umfasst Strafen gegen Länder, die sich dieser Politik widersetzen. Der Fiskalpakt schränkt damit demokratische Selbstbestimmung weiter ein. Er ist vorläufiger Höhepunkt einer autoritären Entwicklung in Europa.
Wir sind diese unsoziale und anti-demokratische Politik ebenso leid wie die rassistischen Attacken auf die griechische Bevölkerung. Reden wir stattdessen von den menschenverachtenden Folgen dieser Politik. Reden wir über die autoritäre Wende Europas und deutsche Niedriglöhne als Krisenursache. Reden wir vom unangetasteten Vermögen der Wenigen und dem Leid der Vielen. Reden wir von unserer Bewunderung für den Widerstand und die Solidarität in der griechischen Bevölkerung. Fordern wir das Selbstverständliche: Echte Demokratie und ein gutes Leben in Würde für alle – in Europa und anderswo.
Die Krise in Europa ist die Spitze eines Eisbergs. Darunter liegt eine tiefe Strukturkrise des Kapitalismus. Zu viel Kapital ist auf der Suche nach Profit. Doch die Profitraten sind niedrig: Die Konkurrenz ist zu groß und die Löhne zu gering. Schuldenfinanziertes Wachstum und Spekulationsblasen konnten den Ausbruch der großen Krise nur verzögern. Nun propagiert das autoritär-neoliberale Bündnis das radikalisierte Weiter-so: Spekulationsverluste sozialisieren – durch dauerhaften Schuldendienst der Lohnabhängigen. Die Profitrate soll gesteigert werden – durch prekäre Arbeitsverhältnisse, Lohn- und Rentenkürzungen, Sozialabbau und Privatisierung. Die Folgen sind drastisch und was in Griechenland passiert, droht ganz Europa: Massenarbeitslosigkeit, Verarmung breiter Bevölkerungsschichten, zerfallende Gesundheitssysteme, die Zunahme psychischer Erkrankungen und eine sinkende Lebenserwartung.
Derartige Maßnahmen können nur autoritär durchgesetzt werden. Der Putsch Pinochets in Chile 1973, die IWF-Programme in afrikanischen Staaten der 1980er Jahre und die Transformation im Osteuropa der frühen 1990er Jahre sind historische Vorläufer für Fiskalpakt & Co: Es sind Schockstrategien. Mit vielen Opfern erkämpfte, soziale und demokratische Prinzipien werden durch den Fiskalpakt in atemberaubendem Tempo abgeschafft, um den Schuldendienst zu sichern und die Profitraten zu steigern. In Italien und Griechenland setzen nicht-gewählte Technokraten-Regierungen mit Knüppeln, Tränengas und Wasserwerfern jene Spardiktate durch, die in Brüssel, Frankfurt und Berlin von männerdominierten ‚Experten‘-Gruppen beschlossen werden. Der Fiskalpakt und das Gesetzespaket zur 'Economic Governance' verleihen Organen wie EU-Kommission, Europäischem Gerichtshof und Europäischer Zentralbank, die jenseits demokratischer Kontrolle agieren, mehr und mehr Macht. Es ist perfide: Um demokratische Entscheidungen gegen die neoliberale Orthodoxie zu verhindern, verstärkt der Fiskalpakt das Diktat der Finanzmärkte durch Strafzahlungen an die EU.
Wie in der Weltwirtschaftskrise der 1930er Jahre gewinnen chauvinistische und faschistische Kräfte an Einfluss, in Ungarn, Österreich, Finnland und anderswo. Geschichtsvergessen macht die deutsche Regierung mit ihrer kompromisslosen Austeritätspolitik reaktionäre Krisenlösungen immer wahrscheinlicher.
Weltweit toben Kämpfe gegen diese Politiken, vom Syntagma-Platz in Athen über den Tahrir-Platz in Kairo und den Zuccotti-Park in New York bis zur Puerta del Sol in Madrid. Die Bewegungen von Flüchtlingen und Wanderarbeiter_innen, mit denen diese die Außengrenzen Europas überqueren, sind Teil dieser Kämpfe um ein gutes Leben. Diese Kämpfe müssen grenzüberschreitend und in den ‚Zentren’ des autoritär-neoliberalen Bündnisses geführt werden, in Paris, Brüssel, Frankfurt und Berlin. Wir rufen deshalb zur Beteiligung an den kommenden Protesten auf, darunter der europäische Aktionstag am 31. März, der Global Day of Action am 12. Mai und die internationale Mobilisierung nach Frankfurt a.M. vom 17.-19. Mai. Wir setzen damit auf eine alternative Krisenlösung:
- Fiskalpakt nicht ratifizieren, das EU-Gesetzespaket zur 'Economic Governance' zurücknehmen;
- Staatsschulden streichen, Kapitalverkehrskontrollen einführen und Banken in öffentliche Dienstleister umwandeln;
- gesellschaftlichen Reichtum durch ein neues Steuersystem von oben nach unten umverteilen;
- mit einem sozial-ökologischen Investitionsprogramm soziale Infrastruktur ausbauen und ökologischen Umbau vorantreiben;
- Arbeitszeit verkürzen;
- Politik und Wirtschaft auf allen Ebenen radikal demokratisieren;
- die rassistische Politik der Grenzabschottung beenden, Bleiberecht und Papiere für alle.
Gegen die autoritär-neoliberale EU der Wenigen setzen wir ein demokratisches und sozial-ökologisches Europa der Vielen!
Assoziation für kritische Gesellschaftsforschung (AkG), März 2012
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