Ein von Oliver Nachtwey in der F.A.Z erschienener Artikel hat Anfang 2012 auf dem AkG-Verteiler zu einer teilweise hitzig ausgetragenen Diskussion über die Lage des Marxismus in Deutschland geführt. Dass der Artikel derartig breit diskutiert wurde und eine solche Kontroverse ausgelöst hat, hängt auch damit zusammen, dass der Zustand des Marxismus in der Bundesrepublik und allgemein im deutschen Sprachraum bislang kaum systematisch betrachtet wurde. Dabei drohen viele Erfahrungen unreflektiert verloren zu gehen: Vor allem aus der Perspektive von Jüngeren fehlt es an Wissen darüber, welche Debatten an welchen Orten schon einmal geführt worden sind und welche Resultate und Sackgassen sich aus ihnen ergaben. Andererseits entstehen vielfach neue Debattenstränge, die sich zwar im Marxismus verorten, oft aber von den etablierten Vertreter_innen marxistischer Diskussion kaum zur Kenntnis genommen werden.
Der Marxismus in der BRD hat eine lange Tradition, die bis heute auf vielfache Weise in Form von Zeitschriften, Forschungsprojekten, Konferenzen und anderen Diskussionszusammenhängen fortgesetzt wird. Auch in der DDR entwickelte sich der Marxismus weiter – zum Teil affirmativ zum Regime, zum Teil aber auch kritisch. Nach 1990 waren beide Traditionen, wenn auch in unterschiedlicher Weise, von der Macht des Antikommunismus betroffen. Dieser historische Kontext sollte auch reflektiert werden.
Gleichzeitig fanden und finden andere kritische Theorieströmungen Eingang in marxistische Diskussionen: (queer-)feministische Fragestellungen, Impulse aus der kapitalismuskritischen Rassismusforschung und der postkolonialen Theorie, intensive Bezüge zur Psychoanalyse, Untersuchungen und Debatten zur ökologischen Frage und den Naturverhältnissen, zu Technik und Informatik usw. Auch gibt es die philologischen Bemühungen, die im Zusammenhang der Herausgabe der MEGA stehen. Viele Debatten fanden auf dem Feld der marxistischen Staatstheorie statt.
Neben der Auseinandersetzung mit den Erfahrungen der Marginalisierung und der Verdrängung des Marxismus in Deutschland wollen wir auf dieser Tagung auch der Frage nachgehen, auf welche Weise diese Diskussionen den Marxismus im deutschsprachigen Raum revitalisiert haben und welche Perspektiven sich daraus ergeben.
Dabei sollte ein Fokus auch auf Prozesse der akademischen wie außerakademischen Institutionalisierung gelegt werden: Zum einen die Verstetigungen im akademischen Feld. Zum anderen aber auch darauf, welche anderen Räume für kontinuierliche kritische Diskussionen sich entwickelt haben und neu entstehen? Wie verbreitet sind diese, und was – wenn überhaupt – sind Formen gegenseitiger Bezugnahme? Ist die Pluralität marxistischer Zusammenhänge im deutschsprachigen Raum eine Stärke, oder ist sie Ausdruck eines problematischen Nebeneinanders, vielleicht sogar eines Zustands wechselseitiger Ignoranz, durch den wichtige Bündelungseffekte verspielt werden? Der Blick sollte nicht nur auf die großen Namen fallen, sondern vor allem auch die kollektiven Arbeitsbedingungen reflektieren: Was ist unter den derzeitigen Bedingungen und Verhältnissen an kritischer und marxistischer Wissenschaft überhaupt vorhanden? Welche Chancen und Perspektiven existieren heute? Wie ist nach vorn zu denken ist und welche kollektiven Arbeitszusammenhänge gilt es (weiter) zu entwickeln? Wie können der Bestand und die Weiterentwicklung marxistischer Wissensformen unter den gegenwärtigen Bedingungen undgesellschaftlichen Kräfteverhältnissen gesichert werden? Welche Kontinuitätslinien wurden abgebrochen oder aufgegeben, und welche Fehler wurden dabei auch von linker Seite gemacht?
Damit verbunden ist die grundlegende Frage, ob die Zukunft des Marxismus in der Universität oder in außeruniversitären Zusammenhängen liegt. Welche spezifischen Logiken und Rhythmen der Wissensproduktion und der Auseinandersetzung ergeben sich aus den universitären Arbeitsbedingungen? Sind die Hochschulen ein günstiges Terrain für die Etablierung und Verallgemeinerung emanzipatorischer Wissensformen, oder führen universitäre Konkurrenz, selbstzweckhafte Publikationstätigkeit für den eigenen Lebenslauf und Ausrichtung am Zitationserfolg zu einer Situation, die von chronischem Zeitmangel, akademischer Überproduktion, Selbstreferentialität und Insularität geprägt ist und die stärker zur Verfestigung der gesellschaftlichen Marginalisierung des Marxismus beigetragen hat als zu ihrer Überwindung?
Vor diesem Hintergrund gilt es, die Entwicklungen in früheren Zentren kritischer Theoriebildung wie Berlin, Frankfurt oder Marburg oder, aber auch die in den neueren Zentren wie Kassel, Jena oder Wien sowohl aus Sicht etablierter WissenschaftlerInnen wie auch von Studierenden und Promovierenden zu diskutieren und dabei auch Bilanz zu ziehen. Welche Erfahrungen wurden in den jeweiligen konkreten Prozessen der Akademisierung des Marxismus gemacht, und wie können wir diese nach vorne gerichtet für die Weiterentwicklung des Marxismus reflektieren?
In diesem Zusammenhang ist auch die Außenperspektive auf den deutschsprachigen Marxismus relevant: Wie wurden und werden der hiesige Marxismus und seine Debatte wahrgenommen und rezipiert? Warum werden viele Debatten, die im deutschsprachigen Raum intensiv geführt werden, in anderen Ländern kaum zur Kenntnis genommen? Ist das auf die Divergenz und Pfadabhängigkeit der jeweiligen Diskussionslinien zurückzuführen, oder handelt es sich schlichtweg um (gegenseitiges) Desinteresse oder fehlende Versuche, Verflechtungen durch verstärkte Übersetzungstätigkeit herzustellen?
Um uns diesen Erfahrungen und Problemlagen gemeinsam anzunähern, und es nicht nur bei Benennungen von Defiziten und Stichworten zu belassen, wollen wir uns gemeinsam in einer ersten Tagung mit diesen Fragen auseinandersetzen.
Uns ist es wichtig zu betonen, dass es sich um einen Diskussionsauftakt handeln soll und wir in knapp zwei Tagen diese komplexen Themen nicht annähernd erschöpfend behandeln können. Wir sind uns dessen bewusst, dass Einiges fehlt und dass wir hier und da eine Auswahl treffen mussten, die der Breite und kontinuierlichen Praxis marxistischer Arbeitszusammenhänge im deutschsprachigen Raum nicht immer gerecht wird.
Einiges kann in Arbeitsgruppen behandelt, anderes sollte auf kommenden Tagungen und Workshops Thema werden.
Wir freuen uns auf spannende Diskussionen und erhoffen uns interessante Impulse von der Tagung.
Das AkG-Vorbereitungsteam
Alex Demirović, Etienne Schneider, Sebastian Klauke, Ulrich Brand
Programm
Freitag, 13. Dezember
19:15 Uhr
Ankommen, Begrüßung und einleitende Worte (Alex Demirović)
20:00 Uhr
Warum und zu welchem Ende beschäftigen wir uns im zweiten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts mit Marx und dem Marxismus?
Elmar Altvater (Moderation: Etienne Schneider)
Samstag, 14. Dezember
9:00 bis 11:00 Uhr
Ein kurzer Sommer des akademischen Marxismus?
Impuls: Frank Deppe
Kommentare und Diskussion: Birgit Sauer, Katharina Hajek, Michael Heinrich, Christoph Lieber (Moderation: Sebastian Klauke)
11:30 bis 13:30 Uhr
Einstiegsbeiträge Institutionalisierungen, Tradierungen, Abbrüche
Impuls: Thomas Sablowski
Kommentare und Diskussion: Klaus Dörre, Lutz Brangsch, Silvia Kontos (Moderation: Ulrich Brand)
15:00 bis 17:00 Uhr
Arbeitsgruppen zu einzelnen Themen
Politische Ökologie
Jana Flemming, Melanie Pichler, Christina Plank, Michal Sedlacko, Sarah Hackfort, Daniel Buschmann
Neue Marx-Lektüre
Frieder Otto Wolf, Jakob Graf
Marxismus und Klassenkampf
Peter Birke (Uni Göttingen), Moritz Ege (Uni München), Hanna Lichtenberger (Uni Wien), Thomas Sablowski (RLS) – Moderation: Alexander Gallas (Uni Kassel)
Marx’sche Kritik und kritische Soziologie
Antje Géra (Hamburg), Marcel Krüger (Darmstadt)
Marxismus und Praxisphilosophie
Horst Müller
Hedonistischer Marxismus
Marcus Fiebig
Die Bedeutung der 4. Abteilung der MEGA für die »Aktualität« der Marxschen Theorie
Michael Heinricht (Berlin): Einführung zur MEGA-Edition
Timm Graßmann (Berlin): Marx in Manchester. Zur Bedeutung der Manchester-Hefte in MEGA IV/5
Kohei Saito (Tokio/Berlin): Die Entstehung der Kritik der modernen Agrikultur in Marx’ Exzerptheften
Kolja Lindner (Berlin/Paris): Der Bruch mit dem Eurozentrismus: von Marx’ Indien-Texten (1853) zu den späteren Exzerpten (1879-1882)
17:15 bis 18:00 Uhr
Vorstellung der Arbeitsgruppen im Plenum
18:00 bis 19:30 Uhr
Erneuerungen des Marxismus? Historische und aktuelle Praktiken
Peter D. Thomas, Ingar Solty (Moderation: Antonella Muzzupappa)
19:45 bis 20:30 Uhr
AkG-Mitgliederversammlung
Sonntag, 15. Dezember
9:00 bis 11:00 Uhr
Kritische Wissenschaft als generationenübergreifendes Projekt
mitorganisiert von reflect!
Katharina Pühl, Nikita Dhawan, María do Mar Castro Varela, Ingo Stützle, Benjamin Opratko (Moderation: Inga Nüthen, Etienne Schneider)
11:30 bis 13:30 Uhr
Anschlüsse an Marx
Akademisch oder nicht? Was sind aktuelle Forschungsschwerpunkte und Herausforderungen? Was ist die Rolle der AkG und anderer Projekte vor diesem Hintergrund?
Sonja Buckel, Pia Garske, Oliver Nachtwey (Moderation: Florian Becker)
Was? Wann? Wo?
Tagung der Assoziation für kritische Gesellschaftsforschung (AkG), 13. bis 15. Dezember 2013, Berlin
Veranstaltungsort: Humboldt-Universität Berlin, Audimax, Unter den Linden 6, 1. Stock
Kooperationspartner
Die Tagung wird in Zusammenarbeit mit der Rosa-Luxemburg-Stiftung (RLS) und dem arbeitskreis kritischer juristinnen und juristen an der Humboldt-Universität (akj-berlin) durchgeführt.
Anmeldung
Anmeldung bis 15. November per Email an Sebastian Klauke (KlaukeSebastian@gmx.de) oder Etienne Schneider (etienne.schneider@posteo.de)
Teilnahmegebühr von 10,- € für Mittagessen und Getränke, Übernachtung bitte selbst organisieren
Aus rechtlichen Gründen kann an der HU keine Bezahlung vor Ort erfolgen. Wir bitten daher darum, die Teilnahmegebühr vorab auf folgendes Konto zu überweisen:
Klauke, Sebastian
Kto-Nr.: 1002114534
BLZ: 21050170 (Förde Sparkasse)
IBAN: DE43 2105 0170 1002 1145 34
BIC: NOLADE21KIE
Dateien
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