Gesellschaftsforschung in Zeiten sozialer Distanzierung: Die Corona-Krise und ihre Folgen
Eine digitale Diskussionsreihe der Assoziation für kritische Gesellschaftsforschung (AkG)
Zahlreiche Todesfälle und schwere Krankheitsverläufe, Ausgangssperren, Produktionsschließungen, staatliche Interventionsprogramme, Schul- und Kita-Schließungen und zusammenbrechende Gesundheitssysteme - der Corona-Virus hat den Alltag vieler Menschen innerhalb kürzester Zeit grundlegend verändert. Kritische Gesellschaftsforschung steht vor diesem Hintergrund vor der Herausforderung, ein kollektives Nachdenken über den Zustand einer sich rapide wandelnden Welt trotz sozialer und physischer Isolation zu gewährleisten. Mit der digitalen Vortragsreihe der Assoziation für kritische Gesellschaftsforschung, die jeweils Mittwochs ab 16:00 Uhr für eine Stunde auf Zoom stattfinden wird, möchten wir ein Format anbieten, um unsere alltägliche Vereinzelung punktuell zu durchbrechen und gemeinsam zu überlegen, was die Veränderungen für uns bedeuten. Jede Sitzung beginnt mit kurzen Inputs zu einem Thema, anschließend ist Zeit für Rückfragen und Diskussion.
Termine
Mittwoch, 3. Juni 2020, 16:00-17:00 Uhr
Ohnmacht und Potentiale kritischer Gesellschaftsforschung in der Corona-Krise
“Die große Betriebsamkeit, die unter (publizierenden) Linken ausgebrochen ist, ist in erster Linie ein Versuch, dem Gefühl der Ohnmacht zu entgehen, den Verlust der eigenen erlebten Handlungsfähigkeit zu kompensieren”, schreiben Jan Ole Arps, Nelli Tügel und Paul Dziedzic in einem Kommentar zur Situation emanzipatorischer Politik in der Corona-Pandemie. In unserer Reihe “Gesellschaftsforschung in Zeiten sozialer Distanzierung”, in der wir uns in den vergangenen zehn Wochen digital mit einem breiten Spektrum von mit der Krise verbundenen Problemlagen beschäftigt haben - von der Situation in der Pflege bis hin zu autoritärem Staatsumbau und Kämpfen um Wohnraum -, war die Diagnose meist ähnlich ernüchternd. Nach einer Schockstarre und der dann massiven Sichtbarkeit von Ungleichheit und bestehenden Konflikte zeigte sich schnell, dass die Krise, obwohl der Wunsch danach groß ist, eher keine Chancen für emanzipatorische Transformationen bietet.
In der vorerst letzten Veranstaltung der Reihe soll es darum gehen, auf der Basis der bisherigen Beiträge eine Zwischenbilanz zu ziehen. Wir blicken auf die letzten Wochen zurück und skizzieren thesenartig einige Spezifika der Corona-Situation. Unser Ziel ist es im Anschluss, gemeinsam zu überlegen, welche Anforderungen die gegenwärtige Situation an kritische Gesellschaftsforschung und uns als Forschende und Publizierende stellt. Wir möchten dabei auch überlegen, welche kollektiven Umgangsstrategien wir entwickeln können oder sollten, damit unsere wissenschaftliche Tätigkeit mehr sein kann als nur ein Versuch, die eigene Ohnmacht angesichts der mit der Pandemie verbundenen sozialen, ökonomischen und politischen Verwerfungen zu kaschieren.
Für die Organisator*innen sprechen Nikolai Huke (Eberhard Karls Universität Tübingen) und Simone Claar (Universität Kassel), Benjamin Opratko (Universität Wien) moderiert.
Link zur Veranstaltung: https://zoom.us/j/4560709333
Vergangene Veranstaltungen
Mittwoch 25.3,2020, 16:00h-17:00h
Die Corona-Krise in China: Auswirkungen auf das chinesische Wirtschaftsmodell und soziale Kämpfe
Mit Inputs von Stefan Schmalz (Universität Jena) und Daniel Fuchs (Humboldt Universität Berlin). Moderation: Simone Claar (Universität Kassel)
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Corona wurde lange Zeit als chinesisches Problem wahrgenommen. Lange diskutierte die europäische Öffentlichkeit über einen möglichen Legitimitätsverlust der chinesischen Regierung. Mittlerweile ist die Kritik einer beinahe ehrfürchtigen Bewunderung der Steuerungsfähigkeit des chinesischen Staates gewichen. Durch ein radikales Vorgehen habe man die Corona-Krise in beneidenswert schnellem Tempo überwunden.
Doch welche Auswirkungen hat die Corona-Krise auf die chinesische und globale Wirtschaft? Was bedeutet die Vorgehensweise der chinesischen Regierung für soziale Kämpfe vor Ort? Welche politischen und wirtschaftlichen Bearbeitungsstrategien sind in den nächsten Wochen und Monaten zu erwarten?
Mittwoch 1. April 2020, 16:00h-17:00h
Wie geht die Rechte mit der Corona-Krise um? Zur Situation in Italien und Österreich
Mit Inputs von Daniela Caterina (Huazhong University of Science and Technology Wuhan) und Benjamin Opratko (Universität Wien). Moderation: Norma Tiedemann (Universität Kassel)
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Die Corona-Krise entfaltet sich in einer globalen politischen Konjunktur, die in den letzten Jahren vom Aufstieg autoritärer und populistischer Kräfte in vielen Ländern geprägt war. Wie verhalten sich diese Kräfte nun, da die Pandemie die soziale und politische Normalität aufbricht? Das diskutieren wir anhand der jüngsten Entwicklungen in Italien und Österreich.
Die Lega unter Salvini nutzte schon den Beginn des Ausbruchs der Corona-Krise zur Ausgrenzung von ChinesInnen in Italien. Erste Konsequenzen waren massive Verluste für die lokale chinesische Wirtschaft und eskalierende Diskriminierungsfälle gegen italo-chinesische Gemeinden. Es galt das Motto: Italiener zuerst! - Prima gli italiani! Was passiert nun, seitdem der Feind nicht mehr von außen kommt und die Lombardei zum neuen Hubei geworden ist?
In Österreich trifft die Corona-Krise eine FPÖ, die sich nach der Ibiza-Affäre, der Abspaltung des langjährigen Führers Heinz-Christian Strache und anhaltenden internen Konflikten selbst im Krisenmodus befindet. Sie versucht nun, die Ausnahmesituation zu nutzen, um sich zu konsolidieren und als besonders konsequente Krisenmanagerin zu inszenieren. Zugleich versucht auch Sebastian Kurz, Bundeskanzler und Parteivorsitzender der ÖVP, seine Führungsposition zu einem umfassenden Hegemonieanspruch auszubauen. Welche Widersprüche und neue Konfliktlinien ergeben sich aus diesen Entwicklungen für die Rechte in den beiden Ländern?
Mittwoch 8. April 2020, 16:00h-17:00h
Der Pflege- und Gesundheitssektor in der Krise
Mit Inputs von Stefanie Wöhl (FH des BFI in Wien) und Hanna Lichtenberger, Moderation: Daniela Caterina (Huazhong University of Science and Technology Wuhan
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Nicht erst seit der Corona-Krise stehen die Arbeitsrealitäten der Gesundheits- und Pflegeberufe im Fokus: monatelang wurde in Österreich um einen Lohnabschluss und die Arbeitszeitverkürzung gerungen. Nun gibt es erneut Aufmerksamkeit für die Pflege- und Betreuungsberufe – weil sie selbst durch eine eigene Infektion von Covid-19 betroffen sind oder durch die Betreuung und Pflege von (Covid-19) Erkrankten und Pflegebedürftigen.
Die Krise offenbart mehr denn je strukturelle Probleme dieser Branche europaweit: neoliberale Kürzungspolitik, Privatisierungen sozialer Infrastruktur, die Auslagerung der Produktion von Medikamenten und medizinischem Equipment in Billiglohnländer, Arbeitsdruck und fehlendes Personal bis hin zum Auffinden verstorbener älterer Menschen in privaten spanischen Pflegeeinrichtungen, wo das Pflegepersonal nicht mehr bei der Arbeit erschien und niemand diese Menschen mehr (ver-)pflegte, sodass sie starben.
Die Situation des Pflegesektors spitzt sich zu, soziale Kämpfe gehen nicht zugunsten derjenigen aus, die pflegebedürftig sind oder des im Niedriglohnsektor arbeitenden Pflegepersonals. Zudem weist dieser Sektor aus intersektionaler Perspektive starke Schieflagen auf: In Österreich wurden gerade 24-Stunden-Betreuer*innen aus Rumänien und Bulgarien nach Niederösterreich eingeflogen, um einen Pflege- und Betreuungsnotstand abzufedern. EU-Bürger*innen aus diesen Ländern wurden letztes Jahr noch von der ehemaligen türkis-blauen Regierung aus ÖVP/FPÖ um ihre Familienbeihilfe finanziell beschnitten. Dieser Fall liegt jetzt dem Europäischen Gerichtshof vor, da dies vermutlich gegen den EU-Gleichheitsgrundsatz verstößt. Auf diese Entwicklungen soll in den Vorträgen eingegangen werden.“
Mittwoch 15. April 2020, 16:00h-17:00h
#LeaveNoOneBehind. Kämpfe um das europäische Grenzregime in der Corona-Krise
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Mit Inputs von Maurice Stierl (University of Warwick) und Sonja Buckel (Universität Kassel). Moderation: Benjamin Opratko (Universität Wien)
Viele Geflüchtete an den europäischen Außengrenzen befinden sich in besonders verletzlichen Situationen gegenüber dem Corona-Virus. Ziel der Veranstaltung ist es, vor diesem Hintergrund der Frage nachzugehen, ob und wie sich die Epidemie auf Migrationsbewegungen im Mittelmeer auswirkt. Die Veranstaltung gibt einen Einblick in die aktuelle Situation auf dem Mittelmeer und zeigt kritische theoretische Perspektiven auf, die eine Einordnung der Ereignisse ermöglichen.
Maurice Stierl, der unter anderem beim Alarm Phone aktiv ist, gibt einen kurzen Überblick über die Migrationsbewegungen in den letzten Monaten in der Ägäis, im westlichen Mittelmeer und im zentralen Mittelmeer. Der Schwerpunkt seines Beitrags liegt auf der Situation im zentralen Mittelmeer und den dortigen Grenzschutzmaßnahmen: der Luftraumüberwachung, Aktivitäten der libyschen Küstenwache sowie Praktiken des “refoulement” und des “push-back by proxy”, die grundlegende rechtsstaatliche Prinzipien und Menschenrechte von Geflüchteten ignorieren. Der Beitrag zeigt auch gegenwärtige politische Kämpfe um diese Praktiken auf, etwa die Aktivitäten des Alarm Phone oder die "Free Elhiblu3”-Kampagne. Sonja Buckel geht in ihrem Input anschließend theoretisch dem Zusammenhang von Grenzen, imperialer Lebensweise, Biopolitik und Rassismus nach.
Spendenempfehlung: “Ob bar, per Bankanweisung oder mit PayPal, ob kleine oder große Summen oder am besten Daueraufträge – das Alarmphone benötigt dringend neue Spenden, die allesamt steuerlich absetzbar sind!” https://alarmphone.org/de/spenden/
Mittwoch, 22.April 2020, 16.00 - 17.00 Uhr
Klimapolitik in Corona-Zeiten: Möglichkeit zum Umsteuern oder Vertiefung der Klimakrise?
Mit Inputs von Ulrich Brand (Universität Wien) und Sophie Lampl (Greenpeace) | Moderation: Sascha Radl (Universität Kassel)
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In der Coronakrise wird möglich, was die Klimabewegung schon lange fordert: Der Flugverkehr steht fast still, globale Warenströme sind reduziert, Emissionen gehen zurück. Zugleich setzen die Regierungen weltweit alles daran, den "Wachstumsmotor" wieder anzuwerfen und schmutzige Industrien holen sich Überlebenshilfen aus öffentlichen Geldern. Welche Möglichkeiten für eine klimagerechte Zukunft gibt es in den aktuellen Auseinandersetzungen, welche Gefahren lauern im aktuellen Krisenmanagement? Das diskutieren wir mit Ulrich Brand (Universität Wien, u.a. Co-Autor von "Imperiale Lebensweise") und Sophie Lampl (Programmdirektorin Greenpeace Österreich).
Mittwoch, 29. April 2020, 16.00 - 17.00 Uhr
Notstand der Arbeitsgesellschaft - Streiks und Proteste von Arbeiter*innen in der Pandemie
Mit Inputs von Peter Birke (Universität Göttingen) und Artemisa Ljarja (Clean Clothes Campaign, https://cleanclothes.org/), Moderation: Nikolai Huke
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Nachdem in den ersten Wochen der Corona-Pandemie der öffentliche Fokus auf Verlautbarungen aus Krisenstäben fast alles andere vergessen ließ, wird seit Anfang April die Frage nach den sozialen Dimensionen des Lockdowns stärker in den Blick genommen. Es zeigt sich, wie schnell sich die Corona-Krise in einen Notstand der Arbeitsgesellschaft verwandelt: Es kommt zu massiven Angriffen auf soziale Rechte und Ansprüche, zu einer erweiterten Ausbeutung unbezahlter Sorgearbeit, und eine verschärfte Austeritätspolitik ist mittlerweile mehr als nur zu befürchten. Millionen von Arbeiter*innen im Süden und Osten der Welt werden suspendiert oder entlassen, mit geringen oder gar keinen Entschädigungen, und andere werden gezwungen, in unsicheren Fabriken zu arbeiten, weil dies der einzige Weg ist, Elend zu vermeiden.
Der Input von Peter Birke (Universität Göttingen) fragt erstens danach, welche Arbeitskämpfe aktuell zu beobachten sind. Zweitens wird kurz und thesenartig entwickelt, was sich aus diesen Beobachtungen in Bezug auf Begriff und politische Potenziale von Arbeitskämpfen ableiten lässt.
Artemisa Ljarja (Clean Clothes Campaign) beschäftigt sich mit den Folgen der Pandemie für Beschäftigte in den internationalen Lieferketten für Bekleidung und Schuhe. Anhand von Beispielen aus verschiedenen Ländern Ost- und Südosteuropas wird gezeigt, wie das Modell der Lieferkette Dutzende Millionen von Arbeiter*innen ungeschützt gegen die wirtschaftlichen Verwüstungen der Pandemie lässt.
Grundlage des Beitrags von Peter Birke ist dieses Papier der Gruppe Blauer Montag (Stand: 7. April): https://sozialgeschichte-online.org/2020/04/09/aus-aktuellem-anlass-vom-notstand-der-arbeitsgesellschaft/
Zum Weiterlesen: https://corona-at-work.de/
Mittwoch, 6. Mai 2020, 16.00 - 17.00 Uhr
Zur Kritik der politischen Ökonomie der EU in der Corona-Krise
Mit Inputs von Felix Syrovatka (Universität Tübingen) und Angela Wigger (Radboud University, Nijmegen). Moderation: Tobias Boos (Universität Wien)
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Die Corona-Pandemie entwickelt sich zu einer weltweiten Wirtschaftskrise. In der EU droht eine Wiederholung der Eurokrise, denn die Eurozone ist heute noch fragiler als 2008ff. In Südeuropa wurde die Krise bis heute nicht überwunden, die institutionelle Reform der Architektur der Währungsunion war in den vergangenen Jahren blockiert. Mit Italien steht nun jenes Land im Fokus, in dem sich bereits vor der Corona-Pandemie die Widersprüche der ungleichen Entwicklung in Europa kumuliert und verdichtet haben.
Felix Syrovatka diskutiert vor diesem Hintergrund Gefahren und Chancen, die auf progressive Akteure angesichts einer neuen Eurokrise zukommen könnten. Angela Wigger untersucht in ihrem Vortrag die Umverteilung von Steuergeldern im Zuge der Corona-Krise und deren gesellschaftliche Folgen. Die Not-Staatsbeihilfen umfassen schon jetzt gute zehn Prozent des Bruttosozialprodukts in der EU. Sie vergleicht die gegenwärtigen Maßnahmen mit dem austeritätspolitischen Krisenmanagement der EU in den Jahren 2008ff. und erörtert Handlungsspielräume für Protest und Alternativen.
Weiterführende Lektüre: “Corona und die nächste Euro-Krise. Gefahren und Chancen für die Linke”, verfügbar unter https://prokla.de/index.php/PROKLA/article/view/1873
Mittwoch, 13. Mai 2020, 16.00 - 17.00 Uhr
Die Corona-Krise als Stunde der Autokraten: Brasilien, Thailand und die Philippinen
Mit Inputs von Carolina Vestena (Universität Duisburg-Essen/Universität Kassel) und Wolfram Schaffar (Universität Tübingen). Moderation: Daniela Caterina (Huazhong University of Science and Technology Wuhan)
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In der globalen Berichterstattung zu Corona wurde anfangs gemutmaßt, autoritäre Regierungen würden im Zuge der Pandemie in eine Krise geraten. Populisten würden ‚demaskiert‘ und autoritäre Regierungen delegitimiert, so die Annahme. Die Veranstaltung diskutiert die These für die Fälle von Thailand, den Philippinen und Brasilien.
Thailand und die Philippinen - die einstigen Vorzeige-Demokratien in Südostasien - sind zwei Beispiele für die weltweite sukzessive Ausbreitung autoritärer Regime. Thailand wird seit 2014 von einem Militärregime regiert; mit Duterte ist seit 2016 auf den Philippinen ein autoritärer Populist an der Macht. In Brasilien wird die Pandemie wiederum dadurch verschärft, dass das Land von einem rechtsextremistischen Präsidenten (nicht)regiert wird. Abseits eines Blicks auf das aktuelle Krisenmanagement, soll es auch um mögliche Erklärungsansätze gehen, warum Bolsonaro trotz des katastrophalen Managements der Corona-Krise weiterhin auf eine loyale Anhängerschaft bauen kann.
Mittwoch, 20. Mai 2020, 16.00 - 17.00 Uhr
Autoritärer Staatsumbau in der Corona-Krise: Zur Situation in Israel und Polen
Mit Inputs von Jennifer Ramme (Europa-Universität Viadrina Frankfurt (Oder)) und Michael Elm (FU Berlin, Minerva Institute for German History (Tel Aviv University)). Moderation: Norma Tiedemann (Universität Kassel).
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Die Politik mit der Angst, die rechtspopulistische Politiker gerne verwenden, findet im Zeichen der Coronakrise eine neue Anwendung und Gestalt. Am Beispiel von Polen und Israel möchten wir uns in der Veranstaltung mit der Frage auseinandersetzen, wie die Pandemie von rechten Kräften genutzt wird, um einen autoritären Staatsumbau voranzutreiben und mit rechtsstaatlichen Prinzipien zu brechen.
In Israel ist es dem unter Anklage stehenden Premierminister Benjamin Netanjahu gelungen, die Coronakrise zur Bildung einer Einheitsregierung mit dem Oppositionsführer Benny Gantz zu nutzen. Damit konnte zwar ein vierter Wahlgang innerhalb nur eines Jahres abgewendet werden, allerdings um den Preis erheblicher Legitimationsgewinne des rechten Lagers. Die Angriffe gegen den Obersten Gerichtshof im Vorfeld der Regierungsbildung zeigten an, dass die israelische Rechte bereit ist, mit rechtsstaatlichen Prinzipien zu brechen, wenn sie ihre Vormachtstellung bedroht sieht. Die Bildung der Einheitsregierung sanktioniert zu einem gewissen Grad diese Praktiken und die Tatsache, dass ein unter Anklage stehender Premierminister die Regierungsgeschäfte führen kann. Der Beitrag von Michael Elm wird einige Hintergründe zur Bildung der Einheitsregierung im Kontext der Coronakrise vorstellen sowie auf tieferliegende Probleme der israelischen Demokratie eingehen.
In Polen nutzt die rechte Regierung die Pandemie, um ihre Macht über eine autoritäre Transformation des Staates und einen Abbau von Demokratie weiter zu festigen und jegliche politische Opposition zu marginalisieren. Der Beitrag von Jennifer Ramme stellt die wichtigsten Gesetzesinitiativen und Veränderungen seit Ausbruch der Krise vor, untersucht, wie sich die politischen Machtverhältnisse seither verändert haben und zeigt, welche neuen Protestformen und Formen der Repression gegenüber Protestierenden entstanden sind.
Mittwoch, 27. Mai 2020, 16.00 - 17.00 Uhr
Kämpfe um Wohnraum: Wie Mieter*innen-Bewegungen auf die Krise reagieren
Mit Inputs von Lisa Vollmer (Bauhaus-Universität Weimar) und Bernd Bonfert (Radboud University). Moderieration durch Sascha Radl(Universität Kassel).
Die schon nach 2008 geht mit der Corona-Krise eine Verschärfung der sozialen Ungleichheit und Unsicherheit von Wohnsituationen einher.Während die Pandemie für Menschen ohne festen Wohnsitz oder in überfüllten Unterkünften existenzbedrohend ist, stellen die durch Lockdown-Maßnahmen verursachten Einkommensengpässe viele Haushalte vordie Herausforderung ihre Mieten oder Hauskredite nicht bezahlen zu können.
Schon seit einigen Jahren setzen sich Mieter*innen gegen Mietsteigerung und Verdrängung in vielen Städten in Deutschland zur Wehr und bilden eine Mieter*innenbewegung mit geteilten Aktionsformen, Forderungen und Netzwerken. Für diese Bewegung stellt die Corona-Krise eine große Herausforderng dar, da viele Organisations- und Aktionsformen zunächst nicht mehr möglich sind und Ressourcen für politische Arbeit wegbrechen.Gleichzeitig bietet die Krise die Möglichkeit und Notwendigkeit neue Forderungen zu artikulieren. Ob es gelingen wird dem nach den Hilfspaketen drohende vertiefte Austeritäts- und Neoliberalisierungspolitik eine Alternative entgegen zu setzen, hängt zentral von sozialen Bewegungen wie der Mieter*innenbewegung ab. Auch außerhalb Deutschlands zeichnet sich in einigen europäischen Staaten (allen voran Spanien und Großbritannien) eine verstärkte Zuspitzung derKämpfe um Wohnraum ab, wobei Aktivist*innen in großem Umfang Mietstreiksorganisieren und verstärkt Forderungen nach umfassenden politischen undökonomischen Transformationen stellen.
In dieser Veranstaltung werden die strukturellen und politischen Dimensionen dieser Kämpfe diskutiert, sowie übergreifende Tendenzen und Strategien aufgezeigt.