Die Assoziation für kritische Gesellschaftsforschung hat sich gegründet, weil sich die Erarbeitung und Fortsetzung kritischen Wissens im Anschluss an materialistische Traditionen der kritischen Gesellschaftstheorie in den vergangenen Jahren sehr erschwert hat. Eine der Theoretiker_innen, der sich viele in der AkG in ihrer wissenschaftlichen und politischen Arbeit verpflichtet sehen, ist Judith Butler. Viele von uns haben sich gefreut darüber, dass sie die diesjährige Preisträgerin des Adorno-Preises sein wird. Denn Judith Butler hat nicht nur international maßgeblich zur Fortentwicklung der kritischen Theoriebildung beigetragen, sie hat auch viele entsprechende Initiativen und Personen in diesem Kontext solidarisch unterstützt.
Anlässlich der öffentlich geäußerten Kritik an dieser Preisverleihung hat die Assoziation für kritische Gesellschaftsforschung (AkG) eine Erklärung erarbeitet:
Erklärung
Erklärung der Assoziation für kritische Gesellschaftsforschung (AkG) zur Verleihung des Adorno-Preises der Stadt Frankfurt am 11.09.2012 an Judith Butler
Die Assoziation für kritische Gesellschaftsforschung hat sich gegründet, weil sich die Erarbeitung und Fortsetzung kritischen Wissens im Anschluss an materialistische Traditionen der kritischen Gesellschaftstheorie in den vergangenen Jahren sehr erschwert hat. Eine der Theoretiker_innen, der sich viele in der AkG in ihrer wissenschaftlichen und politischen Arbeit verpflichtet sehen, ist Judith Butler. Viele von uns haben sich gefreut darüber, dass sie die diesjährige Preisträgerin des Adorno-Preises sein wird. Denn Judith Butler hat nicht nur international maßgeblich zur Fortentwicklung der kritischen Theoriebildung beigetragen, sie hat auch viele entsprechende Initiativen und Personen in diesem Kontext solidarisch unterstützt.
Die öffentlich geäußerte Kritik an dieser Preisverleihung halten wir für legitim und für einen normalen Vorgang. Allerdings irritieren uns die Art und Weise der Kritik, die Judith Butlers persönliche Integrität in Zweifel ziehen, ihr »jüdischen Selbsthass«, Antisemitismus oder Hass auf Israel vorwerfen und sie damit auf eine Stufe mit Rassisten stellt. Theodor W. Adorno, Namensgeber des zu verleihenden Preises, war einer der schärfsten Kritiker individueller Herabsetzung und Entwürdigung und hat wie kein anderer den Zusammenhang von kapitalistischer Vergesellschaftung, Antisemitismus und rassistischem Massenmord herausgearbeitet. In ihren Analysen gibt Judith Butler diesem Impuls, den unversöhnten gesellschaftlichen Zustand zu begreifen und auf Veränderung hinzuwirken, Kontinuität.
Judith Butlers Kritik gilt der US-amerikanischen Politik, der Einrichtung von Guantanamo und der Anwendung von Folter ebenso wie der Besatzungspolitik Israels in Palästina. Kritik an Israel kann, das zeigen viele Analysen zu Antisemitismus und Rassismus, allzu schnell auch mit antisemitischen Ressentiments einhergehen. Antisemitismus ist vielgestaltig. Doch auch der Vorwurf hat viele Facetten und kann zu einem Mittel moralischer Selbstüberhebung werden und dazu beitragen, Israels Politik vor Kritik zu immunisieren. Judith Butlers Kritik halten wir grundsätzlich für plausibel und konsequent, sie will ihr Recht wahrnehmen, auf eine bestimmte Weise als Jüdin zu sprechen und nicht als Teil einer vermeintlichen jüdischen Einheit repräsentiert zu werden. Wäre das schon antisemitisch, würde das alle Maßstäbe der Analyse und Kritik verwässern. Entscheidende Merkmale für Antisemitismus, so hatten Horkheimer und Adorno es in der »Dialektik der Aufklärung« vertreten, sind pathische Projektion, Kollektivstereotypie, Antiintrazeption, Anpassungsbereitschaft oder Ticketdenken. Wir haben Judith Butler als eine Theoretikerin kennen gelernt, die sich all diesen Mechanismen aufs Subtilste entgegenstellt. Mit viel Mut und intellektueller Redlichkeit hat sie kulturelle und politische Selbstverständlichkeiten unserer Gesellschaften in Frage gestellt und tritt für die Rechte von Schwulen, Lesben, Menschen mit anderen sexuellen Orientierungen oder rassistisch verfolgten Gruppen ein. Für jede Auseinandersetzung mit sexistischen oder rassistischen Formen von Herrschaft ist ihr Werk unerlässlich. Wir glauben, dass gerade die Unabhängigkeit und parteiische Seite ihres Denkens provoziert und die Kritik an ihr oftmals selbst nicht ganz frei von Voreingenommenheit, Sexismus und Homophobie ist.
Kritisiert wird sie anlässlich der Preisverleihung insbesondere wegen zweier Äußerungen, die die Zugehörigkeit der Hisbollah und der Hamas zur globalen Linken und den Aufruf zum Boykott bestimmter wissenschaftlicher Einrichtungen betreffen. Wir wollen uns ihre Äußerungen nicht zu eigen machen. Dennoch sollten auch sie Gegenstand einer sachlichen Diskussion bleiben. Im ersten Fall wird allzu schnell unterstellt, dass sich Judith Butler einer Linken zurechnet, der nach dem Kriterium des Antiimperialismus auch Hisbollah und Hamas zugerechnet werden könnten. Doch für sich selbst nimmt sie in Anspruch, eine Linksliberale zu sein; und genauer betrachtet sagte sie 2006, während der Podiumsdiskussion an der Universität Berkeley, dass selbst wenn beide Organisationen zur globalen Linken gerechnet würden, dies uns nicht davon abhalten sollte, nach anderen Optionen der Politik als Gewalt zu suchen. Nicht wenige von uns erachten die Äußerung dennoch als hochproblematisch und sehen Hamas und Hisbollah ausdrücklich nicht als Teil der globalen Linken. In der Sensibilisierung im Umgang mit solchen identitären Zuschreibungen sehen wir eine der wichtigsten Anregungen durch Butlers Arbeiten. Letztere – nicht einzelne Äußerungen – sind für uns maßgeblich.
Im zweiten Fall eines Boykotts argumentiert Judith Butler im Zusammenhang einer Kritik an US-amerikanisch-jüdischen Lobbys, die für eine bestimmte israelische Außenpolitik eintreten und plädiert für eine genaue Analyse dieser Zusammenhänge, um Verschwörungstheorien zu vermeiden. Den Boykott grenzt sie ausdrücklich auf solche wissenschaftliche Einrichtungen ein, die die von der israelischen Regierung geförderte Besatzungspolitik Palästinas nicht kritisieren. Viele von uns halten solche Boykottaufrufe für sehr problematisch, sind allerdings der Ansicht, dass Kritik möglich sein muss. Es ist gerade angesichts der verhängnisvollen Rolle, die Wissenschaftler_innen und wissenschaftliche Einrichtungen in antiaufklärerischen und antiemanzipatorischen Entwicklungen immer wieder gespielt haben, ein Moment des Selbstverständnisses der Assoziation für kritische Gesellschaftsforschung, für die Freiheit der Kritik an der Orientierung und Politik von Wissenschaft und ihren Einrichtungen einzutreten. In diesem Sinn begrüßen wir es, dass Judith Butler am 11. September den Adorno-Preis 2012 erhalten soll und sehen darin eine Stärkung der kritischen Impulse in unseren Gesellschaften.
Assoziation für kritische Gesellschaftsforschung, 4. September 2012