Zuletzt aktualisiert am 19. März 2023.
Die FAQ gibt es auch als pdf zum Download in der Spalte rechts.
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Eignet sich das „Extremismus“-Konzept für die Demokratieförderung?
Welches Demokratieverständnis liegt dem „Extremismus“-Konzept zu Grunde?
Können Demokratieprojekte Jugendliche als potentielle „Gefährder der Demokratie“ ansprechen?
Kann die Förderung von Demokratieprojekten daran gebunden werden, die „fdGO“ anzuerkennen?
Ist politische Bildung einer „wehrhaften Demokratie“ verpflichtet?
Sind Sicherheitsüberprüfungen von Demokratieprojekten und ihren Mitarbeiter*innen verhältnismäßig?
Ist Populismus der neue Extremismus?
Wie wird man zum „Verfassungsfeind“?
Eignet sich das „Extremismus“-Konzept für die Demokratieförderung?
Das „Extremismus“-Konzept eignet sich nicht als Bezugsrahmen für die Demokratieförderung und (politische) Bildungsarbeit, auch wenn es das Mantra des Verfassungsschutzes und vieler Politiker*innen ist, Einzug in schulische Lehrpläne gehalten und wissenschaftliche Weihen erhalten hat.
Wie funktioniert das Konzept? Ihm liegt ein Modell zugrunde, das von einer normalen und legitimen Mitte ausgeht, zu der diejenigen gehören, die über „Extremismus“ sprechen. Die „Extremisten“ werden außerhalb der legitimen Normalität positioniert: als linke und rechte, neuerdings auch als ausländische oder islamistische. Der juristische und sozialwissenschaftliche Spezialdiskurs knüpft dabei an das kollektive Symbol der mathematischen Geraden (mit ihrer Mitte und ihren Extremen) an, ebenso wie an das Konzept von Normalität („wir Normalen“ und „die Anormalen“).
Der E-Begriff wurde seit 1974 durch die Verfassungsschutzorgane geprägt und ersetzte die Bezeichnung „radikal“ für (vermeintliche) Gegner*innen der -> freiheitlich demokratischen Grundordnung. Die Entstehung des E-Konzeptes ist aufs engste an die Praxen der repressiven und der ideologischen Staatsapparate gekoppelt, insb. der Innenministerien. Mit sozialwissenschaftlichen Weihen versehen (seit 1989 geben Uwe Backes und Eckhard Jesse das „Jahrbuch Extremismus und Demokratie“ heraus), konnte es sich dann im allgemeinen Sprachgebrauch verbreiten und wurde insbesondere über politische Bildungsinstitutionen in die zivilgesellschaftliche Arena eingespeist. Beim E-Modell handelt es sich um ein politisches „Staatsschutz- und Normalitätsdispositiv“ (Oppenhäuser).
Ein Problem des E-Konzeptes ist, dass es die Unterschiede der konstruierten Gruppen nivelliert und unzulässig gleichsetzt. Aber die Gleichsetzung (in der „Hufeisentheorie“ als Annäherung der linken und rechten Enden ausgearbeitet) ist nicht das einzige Problem. Schon im Grundsatz ist problematisch, die Gefährdung der Demokratie jenseits der gesellschaftlichen „Mitte“ zu verorten. Antidemokratisch ist ferner die Ausgrenzung von Gruppen aus dem legitimen demokratischen Diskurs und ihre Transformation in Beobachtungsobjekte der Sicherheitsbehörden (Grundrechtsaktivist*innen sind bevorzugte Zielobjekte). Und schließlich ist das Konzept antiaufklärend, denn es kann politische Sachverhalte nur in der Struktur des trivialen Modells betrachten, das selbst nicht aus empirischen Sachverhalten abgeleitet ist. Dies hat zur Folge, dass politische Phänomene oft weder begrifflich noch inhaltlich angemessen verstanden werden. So hilft das Label „rechtsextrem“ nicht weiter, um autoritäre Orientierungen zu verstehen, die sowohl in der Mitte der Gesellschaft und im Staatsapparat existieren, als auch in pädagogischen und sozialen Feldern. Es hilft auch nicht, um beispielsweise das Identitäts- und Bewegungskonzept der Identitären Bewegung zu verstehen.
Der kritische Fachdiskurs spricht aufgrund der Problematik des E-Konzeptes teilweise von der „extremen Rechten“, bleibt damit allerdings innerhalb der grundlegenden Struktur des Konzeptes.
Das E-Konzept ist falsch, auch wenn man der Meinung sein kann, dass es mitunter die Richtigen trifft (etwa die als „rechtsextrem“ Kategorisierten). Jede Verwendung des Konzeptes reproduziert seine Struktur der politischen Normalität und Anormalität.
Kommt unser Denken ohne die Kategorie der „Extremisten“ aus? Erschwert wird der Boykott des E-Konzeptes für Wissenschafts- und Bildungspraktiker*innen dadurch, dass Förderprogramme darauf basieren. Geld bekommt nur, wer es anerkennt, wie strategisch auch immer. Hier sind Träger nicht nur gefordert zu bilden, sondern politische Entscheidungen zu treffen.
Welche Erfahrungen machen Menschen, die sich für Demokratie und Menschenrechte einsetzen, mit dem "Extremismus"-Konzept?
Menschen, die sich aktiv gegen Rassismus oder Antisemitismus, Sexismus oder Autoritarismus und für Demokratie und Menschenrechte einsetzen, geraten regelmäßig aufgrund des in der Öffentlichkeit verankerten -> „Extremismus“-Konzeptes unter Druck.
Zum einen sind sie zunehmend von Aktivitäten der AfD im Bund sowie in Land- und Kreistagen betroffen, welche das „Extremismus“-Konzept dazu verwenden, ihre (politischen) Gegner*innen als illegitime Akteur*innen zu diskreditieren, um ihre Aktivitäten zu unterbinden und sich selbst im Gegenzug als im Rahmen des Verfassungsstaates agierend darzustellen. Unter Beschuss stehen regelmäßig Projekte, die im Rahmen des Bundesprogramms „Demokratie Leben!“ gefördert werden. In Sachsen-Anhalt ist auf Antrag der AfD und mit Stimmen der CDU eine Enquete-Kommission „Linksextremismus in Sachsen-Anhalt. Analyse, Sensibilisierung und Prävention zur Stärkung und Wahrung des Rechtstaates in der Auseinandersetzung mit der linken Szene“ eingerichtet worden. Ihren Vorsitz hat André Poggenburg, der mit rassistischem, völkischem und nationalsozialistischem Vokabular in Erscheinung getreten und im Januar 2018 aus der AfD ausgetreten ist, da diese nicht mehr als patriotische Alternative wahrgenommen werde. Zur Diskreditierung und Einschüchterung von Lehrer*innen, die die Ideologeme der AfD im Unterricht kritisch aufgreifen, richtete die AfD Denunziationsplattformen ein.
Diese rechte Offensive geht zum anderen einher mit staatlichen Anfragen an die Verfassungstreue der Projektträger und ihrer Mitarbeiter*innen – etwa durch die (seit 2014 abgeschwächte) „Demokratieerklärung“ oder Extremismusklausel des Bundesfamilienministeriums – und mit Bestrebungen, diese stärker, auch mit -> geheimdienstlichen Mitteln zu kontrollieren. So wurden -> über 50 Träger, die sich um Mittel des Bundesprogramms „Demokratie leben!“ beworben hatten, „anlassbezogen einer Überprüfung auf mögliche verfassungsschutzrelevante Erkenntnisse unterzogen“. Auch das Gesetz zur „Neuausrichtung des Verfassungsschutzes in Hessen“ sieht seit 2018 die Möglichkeit von -> Sicherheitsüberprüfungen von Projektmitarbeiter*innen durch das Landesamt für Verfassungsschutz vor. Mit diesen Maßnahmen werden Menschen, die sich in Projekten für die Stärkung der Demokratie und gegen menschenfeindliche oder autoritäre gesellschaftliche Entwicklungen einsetzen, einem Generalverdacht der fehlenden Verfassungsstreue ausgesetzt. Gleichzeitig werden staatliche Befugnisse ausgeweitet – auch die des Verfassungsschutzes, der einer demokratischen Kontrolle weitgehend entzogen ist. Damit entscheiden in letzter Instanz nicht fachliche Qualitätsstandards einer Profession der mobilen Beratung oder politischen Bildung, sondern sicherheitsbehördliche Überlegungen, wer staatliche Förderung erhält.
So machen Menschen, die sich für Demokratie und Grundrechte einsetzen, die Erfahrung, selbst auf Grundlage des -> „Extremismus“-Modells verdächtigt oder diskreditiert zu werden.
Welches Demokratieverständnis liegt dem „Extremismus“-Konzept zu Grunde?
Seit 1992 legt die Bundesregierung in Variationen Förderprogramme zur Prävention von „Extremismus“ unterschiedlichster Couleur auf. Später kamen Programme zur Stärkung von Zivilgesellschaft und Demokratie hinzu. Auch die aktuellen Programme stehen unter dieser doppelten Zielbestimmung, obwohl die wissenschaftliche Begleitforschung seit langem schon auf die mangelnde Substanz und damit einhergehende Problemverkleinerung sowie politische Instrumentalisierung des -> „Extremismus“-Konzepts hingewiesen hat.
Dem „Extremismus“-Konzept liegt ein reduziertes Demokratieverständnis zu Grunde, in dessen Zentrum der Verfassungsstaat steht. Behauptet wird, “extremistische” Haltungen seien „verfassungsfeindlich“ und daher gegen die Demokratie oder wahlweise gegen den Staat gerichtet. Damit werden auch die Unterschiede zwischen Staat, Demokratie und Gesellschaft verwischt, die ja nicht ein und dasselbe sind.
Die Entstehung der bürgerlich-kapitalistischen, nationalstaatlich organisierten Gesellschaften und der demokratischen Prinzipien Freiheit und Gleichheit liegen zwar historisch nah beieinander, gehen aber nicht ineinander auf. Der Staat ist nicht der Garant oder Vermittler des Allgemeinwohls, er handelt auch nicht ‚aus einem Guss‘. Staatliche Institutionen haben ihre je eigenen, oft sogar im Widerspruch zueinanderstehende Handlungslogiken. Auch staatliches Handeln unterliegt politischen Auseinandersetzungen. Konsens wird machtvoll durchgesetzt. Er wird über zivilgesellschaftliche Diskurse organisiert, indem Themen und Begriffe („Extremismus“, Digitalisierung) gesetzt oder Probleme und Konflikte (Klimawandel, Kapitalismus) de-thematisiert und so der politischen Diskussion sowie alternativen Entscheidungsmöglichkeiten entzogen werden. Das Parteiensystem, Wahlen und politische Repräsentation sind Grundpfeiler der bürgerlich-liberalen Demokratien.
Der Demokratiebegriff selbst, besonders aber die Geschichte demokratischer Errungenschaften, von der „Volkssouveränität“ bis hin zu den sozialen Grund- und Freiheitsrechten, die erst von sozialen Bewegungen gegen staatliche Herrschaft erkämpft werden mussten und müssen, weisen weit über dieses formale Institutionengefüge hinaus, nämlich auf den Prozess des demokratischen Begehrens. Demokratie ist keine bloße Staats- oder Herrschaftsform, sondern eine politische Praxis, die im Sinne von Selbstbestimmung auf Demokratisierung aller gesellschaftlichen Bereiche zielt. Die Kritik an der kapitalistischen Produktions- und imperialen Lebensweise, den verhärteten Strukturen sozialer Ungleichheit, an der Privatisierung öffentlichen Eigentums und sozialer Infrastruktur sowie der Protest gegen Sozialabbau, Rassismus und prekäre Arbeitsverhältnisse sind Teil demokratischer Praxis. Und diese Praxis, die festhält am aufklärerischen Gedanken der Emanzipation, ist Teil des konstitutiven Pluralismus moderner Gesellschaften – eines Pluralismus der Denk- und Lebensweisen, Einstellungen und Überzeugungen. Pluralismus lässt sich weder auf das Parteiensystem beschränken, noch darin bündeln. Demokratische Praxis beinhaltet immer auch neue Formen der Kritik an gesellschaftlichen Verhältnissenund staatlichen Strukturen und damit auch neue Räume der politischen Auseinandersetzung - im, mit und gegen den Staat.
Können Demokratieprojekte Jugendliche als potentielle „Gefährder der Demokratie“ ansprechen?
Die staatlich geförderten Programme gegen „Extremismus“ und für Demokratie, wie das aktuelle Programm „Demokratie leben!“, zielen in der Regel auf Jugendliche und Kinder ab. Die (Bildungs-) Arbeit mit Erwachsenen bleibt weitgehend außen vor. In den Förderprogrammen dominiert meist die Logik der Prävention. Jugendliche sollen vorbeugender Verhaltens- und Werteerziehung unterzogen werden, statt mit ihnen gemeinsam gesellschaftliche Verwerfungen und politische Konflikte zu bearbeiten. Hierzu eröffnet die institutionalisierte Leitidee der -> „wehrhaften Demokratie“, flankiert von einem -> „Extremismus“-Modell kaum Möglichkeiten. Sie legt vielmehr nahe, Jugendliche als potentielle „Gefährder“ wahrzunehmen und zu adressieren.
Das ist nicht nur jugendpädagogisch problematisch, sondern politisch gefährlich. Soziale und politische Problemfelder wie die Zunahme und Polarisierung sozialer Ungleichheit, der strukturelle Demokratieabbau mit den Tendenzen autoritärer Staatlichkeit sowie die politische Rechtverschiebung werden einer zusammenhängenden Wahrnehmung und Thematisierung entzogen, individualpädagogisch gedeutet und so in ihrer tatsächlichen Gefahr für demokratische Gesellschaften verkleinert. Fehlt eine gesellschaftliche Diagnose und politische Analyse, so ist das gerade in der demokratiepädagogischen und politischen Bildungsarbeit mit Kindern und Jugendlichen fatal, denn sie sind ja nicht Verursachende, sondern die Betroffenen von Entdemokratisierung und vom Abbau sozialer Sicherungssysteme. Jugendliche sind auch dann keine „Gefährder“, wenn sie gewaltförmig handeln oder sich undemokratisch verhalten, viel eher zeigen sich darin Bedrohungen und Einschränkungen ihrer eigenen, selbstbestimmten Entwicklungs- und Emanzipationsprozesse.
Kinder und Jugendliche sind so ‚demokratisch‘, wie ihr näheres und weiteres Umfeld es zulässt und wie die politische Kultur es ihnen vorführt. Sie haben dazu eine bisweilen zustimmende, bisweilen ablehnende, bisweilen verunsicherte Position. In erster Linie aber sind sie neugierig auf Welt, interessiert daran, sich zu positionieren, vor allem sind sie auf der Suche. Im Gegensatz zur gängigen demokratiepädagogischen Verhaltenserziehung will -> politische Bildungsarbeit in einem kritisch-emanzipatorischen Sinne junge Menschen darin unterstützen, einen eigenen Weg zu finden, politisch zu handeln, indem sie sich einmischen, eingreifen, zusammenschließen und solidarisch gemeinsame Interessen vertreten. Träger der Jugend(bildungs)arbeit haben nicht die Aufgabe, die Arbeit repressiver Staatsinstitutionen (wie Polizei, Verfassungsschutz) zu unterstützen oder zu ersetzen, indem sie junge Menschen ‚normalisiert‘, diszipliniert und als potentielle „Gefährder“ pädagogisiert. Stattdessen sollten sie Werkstätten und Möglichkeitsräume für Selbstbestimmung und Demokratisierung schaffen.
Kann die Förderung von Demokratieprojekten daran gebunden werden, die „fdGO“ anzuerkennen?
Im Zentrum des -> „Extremismus“-Modells sowie der Richtlinien des Verfassungsschutzes steht die „freiheitliche demokratische Grundordnung“ (fdGO). Was ist das?
Die Formulierung entstammt dem Grundgesetz, wird dort aber nicht näher erläutert. Sie bedarf also der Interpretation und Auslegung. Diese Auslegung war von Anfang an verfassungsrechtlich und politisch umstritten und ist es bis heute. Daher stellt sich die Frage, wie eine einzelne Wendung aus dem Grundgesetz zu einer verallgemeinerten ‚Legalitätsformel‘ werden konnte.
Im Grundgesetz findet sich die „freiheitliche demokratische Grundordnung“ in Artikel 10, 11, 18, 21, 73, 87a und 91. Historisch bedeutsam wurde Artikel 21: „Parteien, die nach ihren Zielen oder nach dem Verhalten ihrer Anhänger darauf ausgehen, die freiheitliche demokratische Grundordnung zu beeinträchtigen oder zu beseitigen oder den Bestand der Bundesrepublik Deutschland zu gefährden, sind verfassungswidrig.“ (Artikel 21, Absatz 2)
1952 verbot das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) die neonazistische SRP und auf zeitgleichen Antrag der damaligen Bundesregierung 1956 die KPD. Den Antrag auf Verbot der NPD lehnte das BVerfG 2003 wegen umfangreicher Verwicklungen des Verfassungsschutzes ab und 2017, weil die NPD nicht über die Möglichkeiten verfüge, ihre verfassungswidrigen Ziele auch durchzusetzen. Die beiden Parteiverbote aus den 1950er Jahren sind für den aktuellen Diskurs der fdGO von entscheidender Bedeutung. Zum einen setzten die beiden Verbotsanträge erstmals sogenannten „Rechts- und Linksextremismus“ gleich, zum anderen nahm das BVerfG in seinen Urteilsbegründungen Bezug auf die Formel der -> „streitbaren“ Demokratie und lieferte eine Minimalliste dessen, worin die „freiheitliche demokratische Grundordnung“ bestehe: Achtung vor den im Grundgesetz konkretisierten Menschenrechten, vor allem vor dem Recht der Persönlichkeit auf Leben und freie Entfaltung; Volkssouveränität; Gewaltenteilung; Verantwortlichkeit der Regierung; Gesetzmäßigkeit der Verwaltung; Unabhängigkeit der Gerichte; Mehrparteienprinzip und Chancengleichheit für alle politischen Parteien mit dem Recht auf verfassungsmäßige Ausübung einer Opposition. (Vgl. BVerfGE 1952, 2, 1)
Diese selektive Liste, in der insbesondere das Sozialstaatsgebot fehlt, wird nun als identisch mit der fdGO und als Essenz des Grundgesetzes gelesen. In Folge des Strafrechtsänderungsgesetzes von 1951 wurde sie durch den Straftatbestand der „Staatsgefährdung“ zum Kriterium für Grundrechtseinschränkungen (Fuhrmann/Schulz 2021, S. 46-49). Nicht mehr nur konkretes Handeln – etwa die Vorbereitung eines Putschs gegen ein demokratisch gewähltes Parlament –, sondern interpretierte Absichten wurden strafbar. Kritische Verfassungsrechtler*innen sprechen deshalb von einer Entwicklung der fdGO hin zu einem „Kampfbegriff“ (Seifert 1991), der der „Feindbestimmung“ (Schulz 2012) diene.
Die fdGO bildete auch den Kernpunkt des sogenannten „Radikalenerlasses“ von 1972. In ihrem Gemeinsamen Runderlass „Beschäftigung von rechts- und linksradikalen Personen im öffentlichen Dienst“ beschlossen Bundeskanzler, alle Ministerpräsidenten und Landesminister, dass ins „Beamtenverhältnis nur berufen werden (darf), wer die Gewähr dafür bietet, dass er jederzeit für die freiheitliche demokratische Grundordnung im Sinne des Grundgesetzes eintritt; Beamte sind verpflichtet, sich aktiv innerhalb und außerhalb des Dienstes für die Erhaltung dieser Grundordnung einzusetzen. (…) Gehört ein Bewerber einer Organisation an, die verfassungsfeindliche Ziele verfolgt, so begründet diese Mitgliedschaft Zweifel daran, ob er jederzeit für die freiheitliche und demokratische Grundordnung eintreten wird.“
Dieser Erlass ging einher mit der Ausspionierung und Überprüfung von ca. 3,5 Millionen Personen durch den Verfassungsschutz – durch Regelanfragen, nicht aufgrund von Anhaltspunkten für Dienstverfehlungen. Nach 11.000 Anhörungsverfahren wurden ca. 1.500 Menschen nicht in den Staatsdienst übernommen oder entlassen, also mit Berufsverboten belegt. Dies betraf vor allem Schulen und Universitäten, in geringer Zahl auch Justiz, Post und Bahn. Der Radikalenerlass zerstörte Berufsbiographien, provozierte aber auch Solidarität mit den Betroffenen, eine zivilgesellschaftliche Debatte über die Aushebelung von Grundrechten sowie Kritik aus dem Ausland an der Einschränkung freier Meinungsäußerung und der Diskriminierung politischer Anschauungen. Sowohl die identifizierten „Staatsfeinde“ als auch die misstrauisch Überprüften waren zu über 90% dem linken Spektrum zuzurechnen, viele Mitglieder der DKP, aber auch Unorganisierte. Ab Ende der 1970er Jahre kam der Erlass nicht mehr zur Anwendung oder wurde von den Bundesländern abgeschafft. Nur wenige Betroffene wurden rehabilitiert und nur dann, wenn sie den Klageweg beschritten. Der Niedersächsische Landtag hat den Radikalenerlass 2016 als „ein unrühmliches Kapitel in der Geschichte Niedersachsens" bewertet und eine Beauftragte zur Aufarbeitung der Schicksale der von Berufsverboten betroffenen Personen eingesetzt. Aber Berufsverbote sind nicht Geschichte: Neben Bestimmungen in Baden-Württemberg, Bayern, Brandenburg und Hessen formulierte der Ampel-Koalitionsvertrag 2021: „Um die Integrität des Öffentlichen Dienstes sicherzustellen, werden wir dafür sorgen, dass Verfassungsfeinde schneller als bisher aus dem Dienst entfernt werden können.“
Gesinnungsschnüffelei und Bekenntniszwang setzen sich unter Einbeziehung des Inlandsgeheimdienstes fort in den von Bildungsträgern verlangten Demokratieerklärungen oder „Sicherheitsüberprüfungen“. Nicht mehr nur Staatsbedienstete geraten ins Visier, sondern alle im Bildungsbereich und in Demokratieprojekten Tätigen. Die fdGO-Formel ist zu einem politischen Instrument der Unterwerfung und Feindbestimmung mutiert. Mit Rechtsmitteln ist dem nicht beizukommen, aber mit politischer Auseinandersetzung und kollektivem Mut.
Ist politische Bildung einer „wehrhaften Demokratie“ verpflichtet?
Nein, das ist sie nicht. „Wehrhafte“ oder „streitbare Demokratie“ sind sowohl Formeln der Staatsrechtslehre, als auch ideologische Floskeln. Im Grundgesetz finden sich derartige Formulierungen nicht. In juristischen Verfahren taucht die Formulierung “streitbar” erstmals 1956 in der Urteilsbegründung des Bundesverfassungsgerichts zum Verbot der Kommunistischen Partei Deutschlands auf. Anfang der 1970er Jahre findet die Formel über weitere BVerfG-Urteile in Verbindung mit der -> fdGO Eingang in den verfassungsrechtlichen Diskurs und wird in der Folge zu einem verfassungsrechtlichen Auslegungskriterium, das jedoch selbst wieder unterschiedlich gelesen und gedeutet wird.
Die Grundidee der „wehrhaften Demokratie“ ist, dass der legale Gebrauch von demokratischen Rechten illegitim sein könne. Mit den Konstrukten von „Feindschaft“, „Gefährlichkeit“ und „Absichten“ werden Parteienverbote, Berufsverbote, Vereinsverbote und der Einsatz des Verfassungsschutzes gegen -> „Extremisten“ begründet – ohne dass diese gesetzeswidrig gehandelt haben müssen. Dies wird als Lehre aus dem Nationalsozialismus bezeichnet, den eine ‚zu demokratische‘ Weimarer Verfassung erst ermöglicht habe. Diese Behauptung ist so weit verbreitet wie unzutreffend, denn die nationalsozialistische Regierung musste die Weimarer Reichsverfassung brechen, um die Opposition auszuschalten (Reichstagsbrandverordnung) und dann die vollständige gesetzgebende Gewalt zu übernehmen (Ermächtigungsgesetz). Diesem Gesetz stimmten bürgerliche Parteien und nationalkonservative Eliten zu, die das demokratische Recht immer schon ‚höheren Werten‘ unterordnen wollten. Die behauptete Legalität der Machtübernahme ist „ein Mythos, der auf nationalsozialistischer Propaganda gegen die Republik beruht“ (Schulz 2020, S. 19).
Die „wehrhafte Demokratie“ fixiert Demokratie und Gesellschaft auf ein ahistorisch zu bewahrendes ‚Standbild‘, das keine radikalen Demokratisierungsperspektiven kennt und sie fordert Unterordnung unter die sicherheitsbehördliche Beurteilung. Mit dem Demokratieprinzip des Grundgesetzes, das der gesellschaftlichen Demokratisierung keine Schranken setzt, ist dies unvereinbar. Über das -> „Extremismus“-Konzept wurde der Gedanke der „wehrhaften“ Demokratie zu einer institutionellen Leitidee, die Individuen und Gruppen jenseits einer konstruierten Mitte unter einen „staatsfeindlichen“ Generalverdacht, mindestens aber unter „Extremismus“-Verdacht stellt. Aus dem Blick gerät, dass auch staatliche Institutionen selbst zu demokratiegefährdenden Problemzonen werden und demokratische Grundrechte untergraben können.
Zum ideologischen, an den Staat und seine Institutionen adressierten Konzept der „wehrhaften“ Demokratie gehört der Satz „Keine Freiheit für die Feinde der Freiheit“ (Saint Just). Dies kann keine Losung für politische Bildungsarbeit sein. Weder freie noch öffentliche Bildungsträger sind ein verlängerter Arm des Staates und die in diesen Feldern Arbeitenden keine Dienstleister*innen der Sicherheitsbehörden. Dennoch wird die Demokratiebegrenzung auch in der Zivilgesellschaft zunehmend anschlussfähig – mitunter in der Variante der „militant democracy“ der 1930er Jahre, die trotz antifaschistischer Motivation das grundsätzliche Problem in sich trägt, Demokratie autoritär retten zu wollen.
Werden Träger, die ihre Mitarbeiter*innen nicht durch den Verfassungsschutz überprüfen lassen, mit den Fördermitteln machen was sie wollen?
Im Juni 2018 beschloss der Hessische Landtag mit den Stimmen von CDU und Bündnis 90/Die Grünen und gegen Proteste ein neues Verfassungsschutzgesetz. Es sieht unter anderem vor, Träger und Mitarbeiter*innen von Demokratieprojekten durch das Landesamt für Verfassungsschutz sicherheitsüberprüfen zu lassen, wenn der Träger erstmalig aus Landesmitteln gefördert wird.
§ 20 HVSG vom 25.06.2018: „Das Landesamt darf Informationen einschließlich personenbezogener Daten, auch wenn sie mit nachrichtendienstlichen Mitteln erhoben wurden, an inländische öffentliche Stellen übermitteln, wenn der Empfänger die Informationen benötigt 1. zum Schutz der freiheitlichen demokratischen Grundordnung oder sonst für Zwecke der öffentlichen Sicherheit oder der Strafverfolgung, soweit die Übermittlung nicht nach Abs. 2 beschränkt ist, oder 2. zur Erfüllung anderer ihm zugewiesener Aufgaben, sofern er dabei auch zum Schutz der freiheitlichen demokratischen Grundordnung beizutragen oder Gesichtspunkte der öffentlichen Sicherheit oder auswärtige Belange zu würdigen hat, insbesondere bei (…) der anlassbezogenen Überprüfung der Zuverlässigkeit von Personen und Organisationen, mit denen die Landesregierung zusammenarbeitet aa) in begründeten Einzelfällen, bb) anlässlich der erstmaligen Förderung von Organisationen mit Landesmitteln, sofern diese in Arbeitsbereichen zur Bekämpfung von verfassungsfeindlichen Bestrebungen tätig werden sollen, mit deren Einwilligung und der Möglichkeit zur Stellungnahme“.
Das gleichzeitig geänderte Hessische Gesetz über die öffentliche Sicherheit und Ordnung (HSOG) sieht außerdem polizeiliche Zuverlässigkeitsprüfungen für Mitarbeiter*innen u.a. von Trägern „im Bereich der Extremismusprävention“ vor. Auf "extremistisch motivierte Tätigkeiten (rechts / links / salafistisch)" können in Frankfurt am Main bereits alle Mitarbeiter*innen (z.B. Sozialarbeiter*innen) in Flüchtlingsunterkünften polizeilich überprüft werden – auf Wunsch des Landes Hessen.
Auch ohne diese -> unverhältnismäßigen und rechtswidrigen Maßnahmen haben öffentliche Fördermittelgeber umfangreiche Möglichkeiten, die Qualität von Projekten einzuschätzen. Sie müssen sich dabei nicht alleine auf die Aktenlage im Rahmen von Antrags-, Bewilligungs- und Verwendungsnachweisverfahren verlassen, sondern können auch persönlich in einen Fachaustausch eintreten. In der Praxis findet dies auch statt: So profitieren viele Kommunalpolitiker*innen seit Jahren von der Expertise Mobiler Beratungsteams, Bildungsinitiativen oder Opferberatungsstellen.
Die Sicherheitsüberprüfung von Demokratieprojekten ist keine notwendige Maßnahme, um die zielkonforme Verwendung von Fördermitteln sicherzustellen, sondern sie ist Politik.
Sind die Träger und Mitarbeiter*innen politischer Bildungsarbeit zur (politischen) Neutralität verpflichtet?
Nein, denn es gibt keine Verpflichtung zu (politischer) Neutralität. Bildungsarbeit steht nie außerhalb politischer Zielvorgaben. Ziele und Grundlagen der staatlichen Bildungsakteure sind im Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland sowie in den Landesverfassungen verankert. Sie sind nicht politisch neutral, sondern fordern im Gegenteil den Einsatz für Demokratie, Sozialstaatlichkeit und Menschenrechte.
Als wichtiges Rechtsgut der Demokratie gilt die Chancengleichheit der Parteien. Diese darf durch den Staat nicht beeinträchtigt werden. Er muss vielmehr alle Parteien nach dem Gleichheitsgebot behandeln, weshalb z.B. einem -> Parteiverbot enge Grenzen gesetzt sind. Bezeichnet wird dies als „staatliches Neutralitätsgebot“. Es erstreckt sich auf die Staatsorgane, deren Repräsentant*innen und Bediensteten in ihrer jeweiligen Amtsausübung. Keineswegs aber bedeutet deren Pflicht zur parteipolitischen Neutralität, dass etwa Ministerpräsident*innen, Lehrer*innen und Hochschullehrer*innen ihre politischen (oder weltanschaulichen) Präferenzen verschweigen müssten. Erwartet wird vielmehr, dass sie in ihrer staatlichen Funktion politische Parteien weder werbend unterstützen noch herabsetzen. Von Lehrer*innen und Hochschullehrer*innen wird gleichzeitig erwartet, zur politischen Urteilsbildung beizutragen. Dies erfordert u.a. die kritische Auseinandersetzung mit politischen Parteien: mit Parteiprogrammen, politischer Rhetorik und aktuellen Stellungnahmen im politischen Diskurs. Schüler*innen und Studierende sollen in die Lage versetzt werden, die Politik von Parteien zu analysieren und zu beurteilen.
Das parteipolitische Neutralitätsgebot gilt für den Staat und nicht für zivilgesellschaftliche Akteur*innen. Wenn diese allerdings staatliche Mittel in Anspruch nehmen, dann beachtet der Staat bei der Mittelvergabe sein Neutralitätsgebot. So werden die Stiftungen der politischen Parteien unter besonderen Auflagen gefördert und parteinahe Jugendverbände unter der Maßgabe der Pluralität. Zunehmend fordern staatliche Fördermittelgeber grundsätzlich, das parteipolitische Neutralitätsgebot zu beachten. So etwa das hessische „Kompetenzzentrum Extremismusprävention“, ansässig im Innenministerium, im Jahr 2017: „Eine Förderung von Demonstrationen, Veranstaltungen, Veröffentlichungen oder sonstige Aktionen gegen Parteien mit Mitteln des Landesprogramms ‚Hessen – aktiv für Demokratie und gegen Extremismus‘ ist ausgeschlossen. Solcherlei Maßnahmen sind nicht förderfähig.“ Bildungsarbeiter*innen im Staatsdienst und in der Zivilgesellschaft sind nun gleichermaßen gefordert, restriktiven Interpretationen des parteipolitischen Neutralitätsgebotes entgegen zu treten. Die Politik von Parteien (und Staat) in Wort und Schrift kritisch zu analysieren, damit sie beurteilt werden kann, gehört zu ihren originären Aufgaben.
In den Diskussionen, was in der politische Bildungsarbeit als ‚erlaubt‘ gilt und was nicht, wird auch auf den Beutelsbacher Konsens verwiesen. Neben einem Überwältigungsverbot forderten die Schul-Politikdidaktiker bei einer Tagung 1976 nicht nur eine kontroverse Auseinandersetzung mit allem, was in Wissenschaft und Politik kontrovers ist, sondern auch, Schüler*innen in die Lage zu versetzten, eine politische Situation und die eigene Interessenlage zu analysieren, sowie nach Mitteln und Wegen zu suchen, die vorgefundene politische Lage im Sinne ihrer Interessen zu beeinflussen. Ein Neutralitätsgebot findet sich im Beutelsbacher Konsens nicht.
Sind Landes- oder Bundesämter für Verfassungsschutz geeignet, die Qualität der Demokratieförderung sicherzustellen?
Als Inlandsgeheimdienst entziehen sich die Bundes- und Landesämter für Verfassungsschutz weitgehend einer demokratischen Kontrolle. Deshalb fordern Grundrechtsorganisationen nicht erst seit dem NSU-Skandal, die Behörden aufzulösen und den Schutz der Verfassung vollständig in demokratische und demokratisch kontrollierbare Strukturen zu überführen.
Im Dunkelfeld vollzieht sich auch der Einsatz des Verfassungsschutzes für die Demokratieförderung. 2018 wurde durch eine Anfrage im Deutschen Bundestag bekannt, dass 51 Projektträger im Rahmen des Bundesprogramms „Demokratie leben!“ einer Überprüfung auf mögliche verfassungsschutzrelevante Erkenntnisse unterzogen wurden – ohne informiert zu sein und ohne Gelegenheit zur Stellungnahme. Das BMFSFJ beantragte, die Klage der Open Knowledge Foundation auf Offenlegung der durchleuchteten Organisationen zurückzuweisen: „Das Offenlegen der Namen der 51 überprüften Projektträger würde die Funktionsfähigkeit des BMFSFJ beeinträchtigen. Es besteht die Gefahr, dass die betroffenen und auch andere Projektträger in Zukunft keine Fördermittel mehr beantragen, weil sie befürchten, dass sie in Verbindung gebracht werden mit extremistischen Tätigkeiten. Das aufgelegte Förderprogramm würde damit letztlich leer laufen. (…) Die Namen der überprüften Organisationen sind demnach bislang vertraulich. Würden sie offengelegt, ist zu erwarten, dass die überprüften, aber auch die anderen geforderten Projektträger misstrauisch gegenüber dem BMFSFJ würden.“ Ohne die Öffentlichkeit und die Betroffenen in Kenntnis zu setzen, hatte das Bundesministerium des Innern schon im Jahr 2004 den Informationsaustausch zwischen Ministerien und Bundesamt für Verfassungsschutz über „Organisationen, Personen und Veranstaltungen“ veranlasst, um die „missbräuchliche Inanspruchnahme“ von „Förderungsprogrammen mit jugend-, bildungs-, entwicklungs-, umwelt- oder integrationspolitischer Zielsetzung sowie im Rahmen staatlich geförderter Initiativen zur Extremismusbekämpfung“ durch „extremistische Gruppen“ auszuschließen.
Die Verwendung öffentlicher Mittel geheimdienstlich zu überprüfen ist nicht nur -> unverhältnismäßig, sondern verkennt auch, dass das -> Demokratiekonzept des Verfassungsschutzes vollkommen ungeeignet ist. Die Verfassungsschutzbehörden beobachten und speichern regelmäßig demokratische Aktivitäten, mit denen Grundrechte ausgeübt werden. Sie verdächtigen gelebte Demokratie, die auch die Kritik an der Verfassung beinhalten können muss (z.B. am Abbau des Asylrechtes oder an den Hürden direkter Demokratie). Die Beobachtungen sowie Speicherung und Übermittlung von Daten sind daher vielfach rechtswidrig (wobei der Rechtsbruch aufgrund des Wirkens im Geheimen oftmals weder aufgeklärt noch korrigiert werden kann). Die rechtswidrige Praxis offenbart das Demokratiedefizit der Ämter für Verfassungsschutz. In ihrem aus der -> „Extremismus"-Logik völlig verkürzten Demokratieverständnis disqualifizieren sie sich, geeignete Daten über demokratiefördernde Aktivitäten zur Verfügung zu stellen.
Sind Sicherheitsüberprüfungen von Demokratieprojekten und ihren Mitarbeiter*innen verhältnismäßig?
Ende 2020 stellte sich durch eine kleine Anfrage der Partei die LINKE heraus, dass eine anlasslose Überprüfung von NGOs und Demokratieprojekten, die sich auf Fördermittel des Bundes neu bewerben oder diese beziehen, gängige Praxis ist und auf Anfrage der Ministerien – insbesondere des BMI – vom Verfassungsschutz durchgeführt wird.
Anlasslose Sicherheits- und „Zuverlässigkeits"-Überprüfungen machen aus den Subjekten und Souveränen von Demokratie Objekte der Beobachtung. Die staatlichen Sicherheitsbehörden erklären den Demos zum Risiko und setzen sich als Hüter der Demokratie ein.
Die Logik der Verdächtigung und der obrigkeitsstaatlichen Zertifizierung von Zuverlässigkeit befördert Duckmäusertum, Denunziation, Anpassung und Autoritarismus, wie sich an der Geschichte des -> „Radikalenerlasses“ zeigt. Sie behindert den lebendigen Streit um Demokratie, die notwendige Kritik am Staat und die demokratisch gebotene Kontrolle seiner Institutionen. Sie beschädigt soziale Zusammenhänge, statt sie zu ermöglichen und unterminiert eine zentrale Eigenschaft demokratischer Gesellschaften: die Gewaltenteilung.
Es gehört zu den Aufgaben der Polizei, allen konkreten Anhaltspunkten für eine Gefährdung von Menschen nachzugehen, um diese zu verhindern. Geheimdienstliche Sicherheitsüberprüfungen ohne Anlass sind nicht nur mit Blick auf die Grundrechte der Betroffenen, sondern auch mit Blick auf die demokratische Entwicklung und die Stärkung der Zivilgesellschaft grundsätzlich unverhältnismäßig.
Ist Populismus der neue Extremismus?
Der Begriff Populismus wird derzeit sehr häufig und in unterschiedlicher Bedeutung verwendet – politisch, wissenschaftlich, polemisch. Parallelen zum -> „Extremismus“-Modell sind angelegt: Wir („Normalen“ bzw. „Legitimen“) sprechen über die („Anormalen“ bzw. „Illegitimen“). Ebenso wie das E-Modell funktioniert auch das dominante Populismus-Konzept in einem Rechts-Links-Schema, das die selbsterklärte Mitte ausnimmt; beide können aufeinander bezogen werden. So wurde die Bezeichnung „rechtsextremistisch“ für den Französischen Front National durch die Bezeichnung „rechtspopulistisch“ ersetzt, seit sich die Partei mit hohen Wähleranteilen etabliert hat. Kraft ihres Einflusses können so aus „Extremisten“ „Populisten“ werden. Wenn der Populismus im „Graubereich zwischen Demokratie und Extremismus“ (Möllers/Manzel) verortet wird, reproduziert sich das Problem des -> Extremismus-Modells im Populismus-Konzept.
Aber der Populismus-Diskurs ist komplizierter. Zum einen ist Populismus nicht nur ein delegitimierender Kampfbegriff, sondern auch ein programmatischer Begriff innerhalb eines Teils der Linken (Laclau, Boos), wenngleich der Linkspopulismus außerhalb Lateinamerikas nicht sehr prominent ist. Zum anderen gibt es Theorien des Populismus, die gesellschaftliche Sachverhalte zu begreifen versuchen:
Der autoritäre Populismus verspreche, die Allgemeinheit in der Form des Staates und des einheitlichen Volkes herzustellen, es zu schützen und unmittelbar zu vertreten (Demirović). „Indem die Einfachen sich in ihrem Streit mit den Mächtigen auf den Begriff des Volkes berufen, machen sie einen Anteil geltend, der ihnen in der bestehenden Anordnung der Dinge vorenthalten wurde.“ (Demirovic) Komplexe gesellschaftliche Widersprüche würden verschoben in Gegensätze zwischen einem vereinheitlichten Volk und einem externen Feind, so Zizek, der Populismus deshalb für letztlich proto-faschistisch hält.
Da er selbst kein gesellschaftstheoretisches Substrat hat, wird der Populismus auch als „dünne Ideologie“ bezeichnet, die folgende Elemente aufweise: die „Berufung auf den Common Sense, Anti-Elitarismus, Anti-Intellektualismus, Institutionenfeindlichkeit sowie Moralisierung, Polarisierung und Personalisierung der Politik“ (Priester).
Rechtspopulismus wird zudem als Strategie bzw. Stilmittel betrachtet. Seine Kommunikationsweise verbreite Inhalte rechter Ideologie – also Rassismus, Sexismus, Antisemitismus etc. – auf massentaugliche Art und Weise (Wiegel).
Populismus ist nicht der neue Extremismus, auch wenn mit beiden Bezeichnungen politische Gegner*innen als – mehr oder weniger – antidemokratisch delegitimiert werden sollen. Als politisches Programm und als analytischer Begriff ist Populismus umstritten - die Diskussion wird weiter andauern. Im Zuge der stärkeren öffentlichen Verwendung des Rechtsextremismusbegriffs für Teile der AfD und der ‘Neuen’ Rechten sowie der Fokusverschiebung auf die verschwörungsideologischen Mobilisierungen während der Corona-Pandemie, wird (Rechts-)populismus zuletzt weniger breit diskutiert.
Wie wird man zum „Verfassungsfeind“?
In Rechtsprechung, Verordnungen, Berichten der Verfassungsschutzämter, öffentlichen Debatten und einigen Gesetzestexten wird immer wieder von „Verfassungsfeindlichkeit“ gesprochen. Auch werden „extremistisch“ und „verfassungsfeindlich“ teils synonym verwendet.
Was bedeutet „verfassungsfeindlich“? Im Grundgesetz lässt sich der Begriff nicht finden. Stattdessen stößt man hier auf den Terminus „Verfassungswidrigkeit“. So wird in Artikel 21 geregelt, dass Parteien verfassungswidrig seien, wenn diese die -> „fdGO“ beeinträchtigen oder beseitigen oder den Bestand der Bundesrepublik gefährden würden. In diesem Fall kann ausschließlich das Bundesverfassungsgericht diese Parteien verbieten (Absatz 2) oder von der staatlichen Parteienfinanzierung ausschließen (Absatz 3).
Große Bedeutung erlangte der Begriff „verfassungsfeindlich“ im Kontext des -> „Radikalenerlasses“ aus dem Jahr 1972. In dem entsprechenden Beschluss der Ministerpräsidentenkonferenz ist zu lesen, dass Mitgliedschaften in „verfassungsfeindlichen“ Organisationen Zweifel an der Verfassungstreue begründen würden. Im Jahr 1975 beschäftigte sich das -> Bundesverfassungsgericht mit dem „Radikalenerlass“. Das Gericht stellte nicht nur die Rechtmäßigkeit der Berufsverbote fest. Es legitimierte auch, dass durch die Exekutive „vertreten werden darf, [eine] Partei verfolge verfassungsfeindliche Ziele“. Außerdem seien Parteien und Einzelpersonen nicht davor geschützt, „faktische Nachteile“ und „Schranken“ durch die Betitelung „verfassungsfeindlich“ zu erhalten.
Diese Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts war und ist jedoch bis heute umstritten. Peter Römer sieht darin bspw. eine gefährliche juristische „Grauzone“ zwischen Verfassungsmäßigkeit und Verfassungswidrigkeit (Römer 2009, S. 113). Weder muss ein Parteiverbot ausgesprochen, noch rechtswidriges Handeln festgestellt werden, damit die Exekutive willkürlich festlegen kann, wer „verfassungsfeindlich“ agiert und wer nicht. Die Frage, wie man zum „Verfassungsfeind“ wird, lässt sich also nicht durch geltendes Recht beantworten. Es ist von den politischen Kräfteverhältnissen abhängig – mit allen Folgen für Einschränkungen des demokratischen Streits und der Beschädigung von Organisationen sowie Einzelpersonen bspw. durch (vorwiegend gegen Linke gerichtete) -> Berufsverbote oder den unrechtmäßigen Entzug der Gemeinnützigkeit, wie dies jüngst die VVN-BdA erlebt und erfolgreich dagegen geklagt hat.
Literatur und Ressourcen
Portal "Extrem demokratisch" (Texte, Gutachten und Proteste gegen Extremismusklausel und Extremismusdenken)
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Denninger, Erhard u.a. (Hrsg.) (1977): Freiheitliche demokratische Grundordnung. Materialien zum Staatsverständnis und zur Verfassungswirklichkeit in der Bundesrepublik, Frankfurt/M.: Suhrkamp.
Feldmann, Dominik (2023): Demokratie trotz(t) Antiextremismus? Zur Bedeutung von Extremismusprävention für (Ent-) Demokratisierung und politische Bildung. Frankfurt a.M.: Wochenschau Verlag.
Friedrichs, Jan-Henrik (2018): „Was verstehen Sie unter Klassenkampf?“ Wissensproduktion und Disziplinierung im Kontext des „Radikalenerlasses“. In: Sozial.Geschichte Online, Heft 24/2018.
Fuhrmann, Maximilian; Schulz, Sarah: Strammstehen vor der Demokratie. Extremismuskonzept und Staatsschutz in der Bundesrepublik. Stuttgart: Schmetterling Verlag.
Hufen, Friedhelm (2018): Politische Jugendbildung und Neutralitätsgebot. In: Recht der Jugend und des Bildungswesens 66/2. S. 216-221.
Regier, Sascha (2023): Den Staat aus der Gesellschaft denken. Ein kritischer Ansatz der politischen Bildung. Bielefeld: transcript Verlag
Römer, Peter (2009): Kritik der „Berufsverbote“ in der BRD, in: Römer, Peter (Hrsg.): Die Verteidigung des Grundgesetzes (= Beiträge, Bd. 3), Köln, S. 110-117.
Schäfer, Helmut (1982): Die freiheitlich-demokratische Grundordnung. Eine Einführung in das deutsche Verfassungsrecht (= Geschichte und Staat, Bd. 261 / 262), München / Wien.
Schillo, Johannes (2012): Zur staatlichen Formierung politischer Bildung – Verfassungsschutz und Extremismusforschung setzten die Eckdaten. In: Klaus Ahlheim, Johannes Schillo (Hrsg.): Politische Bildung zwischen Formierung und Aufklärung. Hannover: Offizin, S. 126-143.
Schulz, Sarah (2020): Traditionell illiberal und antikommunistisch: Die wehrhafte Demokratie. In: Z – Zeitschrift für marxistische Erneuerung 31. Jg, Dezember, S. 16–25.
Seifert, Jürgen (1991): Der Grundkonsens über die doppelte innerstaatliche Feinderklärung. Zur Entwicklung der „freiheitlichen demokratischen Grundordnung“. In: Blanke, Bernhard/Wollmann, Hellmut (Hrsg.), Die alte Bundesrepublik – Kontinuität und Wandel. (Leviathan Sonderheft 12), Opladen, S. 354-366.
Uhlig, Tom David; Berendsen, Eva; Rhein, Katharina (2019): Extrem unbrauchbar. Über Gleichsetzungen von links und rechts. Berlin: Verbrecher Verlag.
Widmaier, Benedikt (2021): Extremismuspräventive Demokratieförderung. Frankfurt a.M.: Wochenschau Verlag.
Wir beantworten hier Fragen zu aktuellen Entwicklungen und
Diskussionen in der politischen Bildung und Demokratieförderung,
insbesondere zur Anwendung des "Extremismus"-Konzeptes sowie zur
Überprüfung von Bildungsträgern durch den Verfassungsschutz.
Dateien
- FAQ zum Extremismus-Konzept pdf, 5.72 MB